Lieber Michael Roth,
hätte ich nicht von Ihnen den Eindruck, dass Sie mit mehr Herzblut und Moral ihre politische Arbeit vernichten als viele Ihrer Kolleg*innen, würde ich mir die Mühe, Ihnen jetzt zu schreiben, sparen.
Insbesondere für Ihren mitfühlenden Einsatz zu Gunsten der Ukraine schätze ich Sie sehr.
Zu Ihrer Empörung über die AfD Wähler in der Sendung von Lanz möchte ich etwas schreiben:
Ja, man kann und muss empört sein über den wachsenden Zuspruch zu einer neofaschistischen Partei - ausgerechnet in Deutschland. Doch sollten wir unsere Empörung nicht noch in viel größeren Maße gegen die politischen Akteure richten, die den Boden bereiten, in dem diese Saat so aufgeht?
Und diese Saat geht nicht nur hier bei uns auf. In vielen Ländern nehmen die nationalistischen und menschenverachtenden Haltungen in bedrohlicher Weise und Geschwindigkeit zu. Wie man die Bedingungen schafft, den Boden für solche Geisteshaltungen zu bereiten, können wir, uns an 1933 erinnernd, aus der deutschen Geschichte nachvollziehen. Damals sind sehr viele Deutsche in eine Lebenssituation geraten, in der sie in materieller Not waren, von materieller Not bedroht waren, sich und "ihr Volk" nicht geachtet und ungerecht behandelt fühlten. Sie hatten keine Zuversicht mehr, dass die politisch Handelnden ihnen aus ihrer wirtschaftlichen Not und aus ihrer seelische Kränkung helfen werden. Da war dann einer, der ihnen sagte, sie seien die Herrenrasse und die Ungerechtigkeiten wolle er beseitigen, Deutschland wieder groß und stark machen, gerade passend in ihrer seelischen und materiellen Not.
Der seit einiger Zeit wachsende Neofaschismus in unseren westlichen Gesellschaften wächst auf ähnlichem Nährboden.
Alle regierenden Parteien verfolgen einen mehr oder weniger neoliberalen Politikstil. Die Menschen können verfolgen und erleben, dass die Reichen immer reicher werden, die meisten Menschen jedoch in zunehmende materielle Bedrängnis geraten. Die politischen Entscheidungen werden weniger gemeinwohlorientiert als von Wirtschaftsinteressen geprägt. Die Menschen erleben, dass sie von den agierenden Politiker*innen, die in erster Linie im Interesse und Auftrag der Wohlhabenden handeln, keine Lösung ihrer Nöte erwarten können. Sie wollen nicht mehr die Absteiger sein, sie wollen sich nationalistisch aufgewertet fühlen, Fremde abwerten, sie wollen die agierende politische Klasse ersetzt haben. Dass sie den Teufel mit dem Beelzebub austreiben ist ihnen sicher nicht bewusst - oder völlig egal.
Und, lieber Michael Roth, es sind nicht nur die Anderen, die diese gesellschaftlichen Bedingungen geschaffen haben, die die Spaltung der Gesellschaft so vorantreibt. Ja, die CDU und die FDP betreiben dieses Geschäft konsequenter. Doch die SPD ist schon lange nicht mehr die Partei, die für den sozialen Ausgleich und die Beschneidung der Kapitalinteressen steht. Schröder, Steinmeier, Gabriel und Scholz haben das Ihre dazu getan, dass die Spaltung der Gesellschaft sich vertiefte. Viele Beispiele dafür will ich nicht aufzählen , nur an die Hartz 4 Gesetzgebung und an das Verabschieden der "Freihandelsabkommen" erinnern.
Und noch eins: Dass im Osten der Erfolg der AFD soviel größer ist als im Westen, passt in das Bild: Die Wiedervereinigung geschah nicht auf Augenhöhe. Das was im Osten einst gut und besser war, wurde nicht übernommen. Betriebe wurden unsensibel zerschlagen. Interessen westlicher Investoren prägten Entscheidungen. Viele Menschen im Osten gerieten in Not, Ihnen und Ihrer Lebensleistung wurde nicht mit Achtung begegnet. Zu viele Menschen mussten sich als Verlierer, als Opfer westlicher Überheblichkeit fühlen.
Ja und jetzt empören wir uns über die Reaktionen der Opfer dieser Verhältnisse. Bitte lassen Sie uns lieber anfangen, uns über die Verursacher zu empören, die auch weiterhin nicht in der Lage sind (das nur als Beispiel), dem Klimawandel wirksam und rechtzeitig zu begegnen. Mit dem weiter praktizierten politischen Handeln werden unzählig viele Menschen in existenzielle Not gebracht, weiter zu Opfern der von Kapitalinteressen dominierten Verhältnisse gemacht.
Mit vielen Grüßen
Henner Gröschner